Vorab eine Frage: Kennen Sie den Begriff "Vertriebs-Ingenieur"? Mehr oder weniger haben die meisten eine Vorstellung von diesem Berufsbild. Haben Sie schon vom "Einkaufs-Ingenieur" gehört? Den muss es ja folgerichtig auch geben. Diesen Begriff sieht man selten. Öfter findet man die internationale Bezeichnung: "Advanced Procurement Engineer". Trifft es wirklich sehr gut, hat sich aber nicht großflächig durchgesetzt. "Advanced Procurement Engineer" wird mit "APE" abgekürzt. Erinnert stark an "ape". Diesen "Titel" möchte man nicht so gern auf der Visitenkarte haben ...

Zunächst möchte ich den technischen Einkauf allgemein beschreiben, dann gehe ich speziell auf die Möglichkeiten von Interim Managern im technischen Einkauf ein.

Aufgaben im technischen Einkauf: Frühe Einbindung in den Produktentstehungsprozess

Der Begriff "technischer Einkauf" bzw. "technical Procurement" hat sich durchgesetzt. Dabei geht es um den Einkauf von zeichnungsgebundenen Teilen und Komponenten. Das setzt sich fort bis hin zum Einkauf von kompletten Produkten einschließlich Maschinen und Anlagen. Die gewünschten technischen Parameter und prinzipiellen Anforderungen dafür werden zunächst in Lastenheften beschrieben. Damit, und mit technischen Zeichnungen, werden geeignete Lieferanten angefragt. Dazu muss der technische Einkäufer die Produkte, Zeichnungen und Lastenhefte verstehen. Er muss auch die Möglichkeiten von potenziellen Lieferanten, die Möglichkeiten deren Entwicklungsabteilung und deren Maschinenpark sowie die möglichen Ausbringungsmengen kennen.

Nach Erstellung einer Anbieterliste der geeigneten Lieferanten und der Versendung der Anfrage geht es weiter mit den Diskussionen von Fragen der Lieferanten. Der technische Einkäufer kanalisiert die Lieferantenkontakte und ist die maßgebliche Schnittstelle: one voice to the supplier. Das schließt direkte fachliche Gespräche (z.B. der Entwicklung und des Qualitätswesens mit den Lieferanten) nicht aus. Diese Gespräche müssen aber unbedingt mit dem technischen Einkauf abgestimmt sein, damit eine durchgängige Einkaufsstrategie aufgebaut und gehalten werden kann. Einkaufsstrategie heißt dabei, sich eine starke Verhandlungsposition bei den am besten passenden Lieferanten aufzubauen. Im günstigsten Fall arbeiten Produktmanagement, Entwicklung, technischer Einkauf, eigene Produktion und Lieferanten früh im Produktentstehungsprozess (PEP) zusammen und finden technische Lösungen, die sich relativ preiswert und schnell mit optimiertem Investitionsbedarf herstellen lassen. Man sollte meinen, eine frühe Einbindung des Einkaufs wäre im heutigen, internationalen Wettbewerb und bei dem herrschenden Kostendruck selbstverständlich. Leider ist diesoft nicht der Fall!

Die passende Auslegung vom Produktentstehungsprozess ist ein Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Unternehmens. Ebenso eine passende Lieferantenbasis und die entsprechende Zusammenarbeit mit den Lieferanten. Gemeinsam mit der eigenen Produktion findet man so die optimale Wertschöpfungstiefe und kann "make-or-buy"-Entscheidungen fundiert treffen. Was im Produktentstehungsprozess nicht frühzeitig berücksichtigt und nicht optimiert wird, lässt sich hinterher durch noch so "harte" Lieferanten-Verhandlungen vom Einkauf allein preislich nicht wieder gutmachen. Meistens müssen dazu dann „Review-Projekte", „Entfeinerungs-Projekte" oder „target costing – Projekte" gestartet werden.

Lastenhefte und Pflichtenhefte für komplexe Komponenten, Maschinen und Anlagen

Im Falle der Maschinen und Anlagen entsteht gemeinsam mit dem Lieferanten ein Pflichtenheft (beschreibt die Umsetzung der Anforderungen des Lastenheftes) als Spezifikation, das dann Grundlage für die Preisverhandlung und für die Auftragsvergabe ist. Die Verhandlung eines Pflichtenheftes geschieht im Idealfall in einem Projektteam.

Alle wichtigen Aspekte einer komplexen Komponente oder Maschine müssen im Pflichtenheft enthalten und fixiert sein, damit es später keinen Streit wegen unterschiedlichen Vorstellungen über den Leistungsinhalt gibt, weil Parameter nicht (ausreichend) schriftlich spezifiziert sind und damit rechtlich keine zugesicherte Eigenschaft vorliegt. Hier geht es z.B. um Taktzeiten, Maßhaltigkeit, garantierte Ausbringung und garantierte Verfügbarkeit. Nicht zu vergessen das Thema Wartung und Ersatzteilversorgung: Wie schnell sind Ersatzteile lieferbar, wie lange sind diese bestellbar und zu welchem Preis? Übrigens wird der Energieverbrauch und/oder Medienverbrauch von Maschinen und Anlagen immer öfter spezifiziert. Dies geht in die Langzeit-Kostenbetrachtung und in die Umweltbilanz ein.

Bereichsübergreifende Zusammenarbeit: Produktmanagement, Entwicklung, Produktion, Einkauf, Qualitätswesen und Logistik

Ein technischer Einkauf und seine Einkäufer sowie die Schnittstellenabteilungen denken und arbeiten im Idealfall bereichsübergreifend, sprich cross-functional. Die Teammitglieder ergänzen sich. So kann echte Wertschöpfung generiert werden und man bekommt gute Produkte in der spezifizierten Qualität, hohe Verfügbarkeit und gute Einkaufs-Preise von der Markteinführung an. 

Die Lieferantenbasis ist in den meisten Firmen international. Lange Zeit waren China und Taiwan im Vordergrund, zwischenzeitlich nehmen diese Länder an Bedeutung ab. Außer, der Mandant verkauft und produziert in China. Dann müssen zusätzliche vertragliche Forderungen nach "local content" erfüllt werden, das wird nun auch von den USA so gelebt. In diesen Fällen müssen in einem vorgegebenen Zeitraster lokale Lieferanten gefunden, entwickelt und genutzt werden.

Vertragswesen, Liefer- und Qualitätssicherungsvereinbarungen

Grundlage für alle Liefer-Verträge sind immer die zugehörigen Spezifikationen, technische Zeichnungen und Pflichtenhefte. Darauf beziehen sich alle vertraglichen Regelungen. Was nicht oder nicht ausreichend spezifiziert ist lässt sich nicht rechtswirksam reklamieren und daher auch nicht „einklagen".

Besondere Branchen sind z.B. Automotive und Medizintechnik. Hier gibt es hohe Haftungsrisiken bei sicherheitsrelevanten Produkten im sogenannten "regulierten" Umfeld. Das Vertragswesen und die Zusammenarbeit mit dem Qualitätswesen bei der Lieferantenqualifizierung und der Lieferantenentwicklung haben deswegen hier eine besonders hohe Bedeutung. Entsprechend der ISO Normen gibt es vorgeschriebene Prozesse, die auch entsprechend dokumentiert werden müssen: Über die bekannte ISO 9001 hinaus bei Automotive die IATF 16949 und in der Medizintechnik die ISO 13485, für Verkauf in die USA müssen die FDA Zulassungsvorschriften eingehalten werden.

Interim Manager im technischen Einkauf

Ein Interim Manager technischer Einkauf arbeitet in dem beschriebenen Umfeld und bringt oft Erfahrung aus mehreren Branchen und aus mehreren „Firmenkulturen" mit. Auch die interkulturelle Kompetenz als Voraussetzung zur Arbeit mit einer internationalen Lieferantenbasis ist meist vorhanden.

Ein Interim Manager hat daher ein Auge und Gefühl dafür, welche Prozesse, welche Einkaufs-Organisation und Schnittstellen und welche Lieferanten für den jeweiligen Mandanten passen und welcher Zeitrahmen für angestrebte Projekt-Ziele realistisch ist.

Interim Projekte im technischen Einkauf bzw. in Form der beschriebenen Zusammenarbeit in den Projektteams können z.B. eine oder mehrere der folgenden Aufgaben umfassen:

(1) value engineering, cost engineering, target costing

(2) technische „Entfeinerungen", Überprüfung bisher vorgegebener Toleranzen und Werkstoffe

(3)" make or buy" einschließlich Optimierung der Wertschöpfungstiefe

(4) Kostensenkungsziele allgemein, z.B. auch durch Anfragen ohne die obigen Punkte

(5) Lieferantenbasis einschließlich risk management optimieren, Category Management

(6) Start of Production, SOP, erreichen

(7) Verfügbarkeit der einzukaufenden Produkte verbessern, Lieferzeiten verkürzen

(8) Lagerbestände senken bis hin zu „externer" Logistik bei komplett zugekauften Produkten

(9) Lieferantenmanagement, Lieferanten entwickeln, Lieferanten-Konzeptwettbewerbe

(9) bereichsübergreifendes Verhandeln von Pflichtenheften

(10) bereichsübergreifende Zusammenarbeit optimieren

(11) Vertragswesen optimieren, Vorbereitung des Einkaufs auf Audits bis hin zu FDA Inspektionen

(12) Organisationsentwicklung Einkauf bis hin zu Corporate Procurement mit z.B. Lead Buyer Struktur. Zentraleinkauf oder Einkaufsnetzwerk, passend zur bestehenden oder angestrebten Firmenstruktur.

(13) Change Management, auch im Rahmen von Restrukturierung und Sanierung:

(14) Prozesse und Schnittstellen maßgeschneidert einführen oder optimieren. Ziel: so schlank wie möglich, aber immer ausreichend zur Erfüllung der geltenden Normen für die Qualitätsmanagement-Systeme.

Ein Interim Leiter technischer Einkauf oder Leiter Projekteinkauf hat es meist in einem Projekt mit mehreren der genannten Themen zu tun und arbeitet gemeinsam mit den fest angestellten Einkaufsmitarbeitern daran. Zusätzlich erhält der Mandant, wenn gewünscht, ein „benchmark" und Anregungen zu Verbesserungen von Prozessen, Strategie und Organisation.

Es gibt viele Projektausschreibungen zu den aufgelisteten Themen ohne Führungsfunktion, die anspruchsvoll sind. Viele Interim Manager nehmen je nach Projektangebotslage sowohl Führungsfunktionen als auch Expertenfunktionen an. So baut sich immer weitere, breitgefächerte und praxisrelevante Erfahrung auf. Der realisierte Mix ist aus der Projektliste des Interim Managers ersichtlich.

Übernahme Interim Mandat und Projektstart

Beim Projektstart gibt es typischerweise einen hohen Zeit- und Ergebnisdruck. In den ersten Einsatztagen geht es darum, die Aufgabe, das Umfeld, die Prozesse und die Menschen in mehreren „Hierarchie-Ebenen" und Bereichen kennenzulernen. Dies setzt sich fort mit dem Kennenlernen der vorhandenen Lieferantenstruktur. Ziel ist es, sich schnell einzuarbeiten und persönlich und fachlich Akzeptanz zu finden. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell es möglich ist, sich diese Arbeitsgrundlage im Projekt zu erarbeiten. Ein übliches Ziel dafür sind ca. 10 Einsatztage.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen die Welt des technischen Einkaufs und weiter die des Interim Managers im technischen Einkauf näherbringen. Ich freue mich auf Ihre Kommentare, Anregungen und Fragen.

Manfred Richter
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