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Volkswagen: Harakiri oder Kalkül? (Teil 1/2)
Man muss sich schon wundern, wie drastisch die öffentliche Diskussion um Volkswagen und das tatsächliche Konzernergebnis zum 30.06.2024 auseinanderklaffen.
Als Wolfsburger verfolge ich die Entwicklungen besonders genau, zumal ich bis dato fast 20 Jahre im Bereich Automotive Retail gearbeitet habe.
Dieser erste Teil meines Blog-Beitrags ist als These, neutrale Einordnung und Perspektivwechsel zu verstehen: Der in wenigen Wochen erscheinende Teil 2 hingegen als Konzeptpapier und kritische Auseinandersetzung über das WIE der Restrukturierungs- und Transformationsbemühungen von Volkswagen.
Das Konzernergebnis per 30.06.2024
Im ersten Halbjahr 2024 erwirtschaftet der Gesamtkonzern bei 159 Mrd. Euro Umsatz gut 7,3 Mrd. Euro nach Steuern. Dass das im Verhältnis nicht ausreicht, steht außer Frage. Die prognostizierte Nettoliquidität im Konzernbereich "Automobile" wird lt. Pressemitteilung 96/2024 vom 01.08.2024 voraussichtlich zwischen 37 und 39 Mrd. Euro betragen! Und die Eigenkapitalquote bewegt sich mit 30,5 % im soliden Bereich. Darüber hinaus bestätigt der Vorstand den Ausblick für 2024 und geht davon aus, dass die Umsatzerlöse des Konzernes das Vorjahr um bis zu 5 % übertreffen werden. Und selbst das Sorgenkind – der Bereich Automobile – legte im Vorjahresverglich zu. Beim Umsatz, beim Bruttoergebnis und beim Ergebnis nach Steuern. Weltuntergang sieht definitiv anders aus.
Kündigung von Tarifverträgen + Beschäftigungsgarantie
Klar ist, dass es zur Aufgabe des Vorstands gehört, dass Unternehmen frühzeitig fit zu machen und durch die Transformation zu führen. Und dass die Renditen bei der Kernmarke VW Pkw – absolut und prozentual – zu niedrig sind, wird auch niemand bestreiten. Aber rechtfertigt das zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine solch drastische Maßnahme wie das Aufkündigen der Beschäftigungsgarantie?
Zumal der Schuss auch schnell nach hinten losgehen kann: Sollten die Verhandlungspartner bezüglich des gekündigten Tarifvertrages bis Juni 2025 keine Einigung erzielt haben, träte der Tarifvertrag wieder in Kraft, der bei VW vor 1994 galt. Dieser sieht lt. einer Berichterstattung des Handelsblatts vom 13.09.2024 unter anderem zusätzliche Pausen und höhere Zuschläge für Mehr- und Samstagsarbeit vor. In dem Artikel heißt es, dass die Gehälter für Tarifbeschäftigte lt. Insidern um mehr als 10 % steigen könnten. Zum Vergleich: Die IG Metall fordert gegenwärtig ein Plus von „nur" 7 %!
Harakiri oder (abgestimmtes) Kalkül?
Warum macht man das so? Gegebenenfalls zeichnet der Vorstand ein Szenario, bei dem auf Mehr- und Samstagsarbeit weitestgehend verzichtet wird.
Irgendwie fühlt es sich dennoch unplausibel an: Sind die Kündigung diverser Tarifverträge, der Beschäftigungsgarantie und die angestoßene Diskussion um Werksschließungen in Deutschland nur ein taktisches Manöver im Kontext der wiederholt maßlosen Tarifforderungen der IG Metall?
Oder versucht man vielleicht – im Kontext der aktuellen Rahmenbedingungen – die Käseglocke des Landes Niedersachsens und der IG Metall einen kleinen Spalt zu öffnen?
Der Wind scheint günstig zu stehen: Deutschland in der Rezession, ein politischer Zick-Zack-Kurs rund um die Förderung der E-Mobilität, damit einhergehend einbrechende Zulassungszahlen von Elektrofahrzeugen sowie zurückgekommene, aber dennoch hohe Energiekosten und eine Vielzahl neuer Marktbegleiter.
Es fällt mir schwer zu glauben, dass ein Vorstand – umzingelt von einem paritätisch von Arbeitnehmern besetzten Aufsichtsrat und dem an Wählerstimmen interessierten Ministerpräsidenten des Landes Niedersachen – die Kündigung der Beschäftigungsgarantie unabgestimmt vornimmt. Meines Erachtens ist das völlig ausgeschlossen. Jeder Vorstandsvorsitzende würde ein solches unabgestimmtes Vorgehen – zumindest in Wolfsburg – nach meinem Dafürhalten nicht überleben.
Es scheint Realität zu sein, dass in Deutschland die Auslastung für kumuliert zwei Werke fehlt und wohl auch nicht mehr zurückkommt. Der Kuchen ist kleiner geworden und durch die Vielzahl an neuen Wettbewerbern sitzen gleichzeitig mehr am Tisch.
Hinzu kommt, dass VW den jahrzehntelangen Vorteil, bei z. B. 20 % höheren Kosten auch 20 % besser zu sein, verspielt hat. Und wer vergleichbar geworden ist, kann seine Fahrzeuge preislich somit nicht mehr oberhalb der Konkurrenz verkaufen.
Wie kann also der Vorstand seinen Job machen, ohne dass alles direkt von den Stimmrechten des Landes Niedersachsen und der IG Metall dominierten Arbeitnehmervertretung kassiert wird? Obwohl selbst der IG Metall und dem Ministerpräsidenten Stephan Weil klar sein dürfte, dass es im Verlauf der kommenden Jahre sukzessiv restriktiverer Maßnahmen bedarf.
Aber wie will man als IG Metall und als Ministerpräsident – der zweifelsfrei auch auf die Wählerstimmen der vielen tausend VW-Beschäftigten in Niedersachen angewiesen ist – gesichtswahrend etwaigen Standortschließungen zustimmen? Oder Massenentlassungen? Unmöglich.
Ausweg aus dem Dilemma
Die Kündigung der Tarifverträge und der jahrzehntelangen Beschäftigungsgarantie könnte für alle Beteiligten sogar den willkommenen Ausweg aus diesem Dilemma bahnen – gesichtswahrend und dennoch zielführend!
Eines dürfte dabei von vornherein gesetzt sein: Durch die Beteiligung des Landes Niedersachen und gut 90.000 Mitgliedern der IG Metall allein in der Geschäftsstelle Wolfsburg, werden keine Werkschließungen in Niedersachen stattfinden.
Eine gestaltete Eskalation könnte am Ende dazu führen, dass es offiziell nur Gewinner geben wird:
- Der Vorstand zieht die Kündigung der Beschäftigungsgarantie zurück (Pluspunkt Arbeitnehmervertreter).
- Im Gegenzug lässt die IG Metall spürbar Federn bei den anstehenden Tarifverhandlungen. Nach dem Motto, dass Beschäftigungssicherung und eine planbare Zukunft wichtiger sei als ein hoher Tarifabschluss, der die Erfolge bisheriger Sparmaßnahmen – ohne betriebsbedingte Kündigungen – konterkarieren würde. Und die Zugangsvoraussetzungen zur Tarifgruppe Plus könnten deutlich erhöht oder sogar für viele Jahre ganz ausgesetzt werden (Pluspunkt Arbeitgeber).
- Sozialverträglich runtergefahren und vielmehr symbolisch wird dann – mit einer längeren Übergangsphase – z. B. nur das Werk in Chemnitz mit ca. 1.800 Beschäftigten. Natürlich unter Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen (Pluspunkt: Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen).
- Zu guter Letzt dürfte es noch eine mehrjährige Standortgarantie geben, mit der ergänzenden Formulierung, dass beide Seiten die Zukunft weiterer Standorte in ein paar Jahren erneut beraten – und zwar zu nunmehr vereinbarten Spielregeln!
Somit hätte der Vorstand die Belegschaft erstmalig aufgerüttelt, Verhandlungsergebnisse erzielt und auch die Arbeitnehmervertretung mit Achtungserfolgen ausgestattet.
Das bis dato (politisch) Unmögliche, nämlich das "In-den-Mund-Nehmen" betriebsbedingter Kündigungen und Standortschließungen, ist nunmehr ausgesprochen und wird einen für alle Beteiligen homöopathischen und gesichtswahrenden Einstieg finden. Und zwar über die nächsten Wahlperioden von Betriebsrat und Politik hinaus.
Soweit meine These in diesem Kontext.
Erfahren Sie in Teil 2, welche Folgen ein unabgestimmtes Vorgehen des Vorstands haben könnte. Insbesondere mit Blick auf die Logik von Krisenstadien und Prinzipien des Scheiterns. In dem Zusammenhang nenne ich Ihnen meine Top 10 für Volkswagen.
Ulf Camehn
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